Nahtoderlebnisse medizinisch erklärt (Teil-4 „Ego-Dissolution“)

Ein weiteres häufig geschildertes „Erlebnis“ bei Menschen mit Nahtoderfahrungen ist die Beschreibung, dass sie sich „mit dem Universum eins fühlen“ oder „Gott erlebt haben“.

Was ist ein ICH-Gefühl, und was ist ICH-Auflösung?

(Fast) jeder Mensch hat ein ICH-Gefühl („Cogito ergo sum“!). Physiologisch gesehen entwickelt sich das Ich-Gefühl ab dem 2. Lebensjahr im sogenannten DMN (Default Mode Network). Das DMN ist ein Netzwerk von verbundenen Hirnregionen, das bei Menschen aktiv wird, wenn sie sich im Ruhezustand befinden, oder sich nicht auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. Es wird hauptsächlich aktiviert, wenn man tagträumt, nachdenkt, meditiert usw. Eine wichtige Rolle im DMN spielt der sogenannte, „Precuneus“. Diese Hirnregion wird mit Selbstreflexion und der Verarbeitung von Erinnerungen in Verbindung gebracht. Das DMN ist eine sehr interessante funktionelle Einheit im Gehirn und spielt bei manchen Krankheiten wie Depressionen und Zwangsstörungen eine Rolle. Bei diesen Krankheiten ist die Aktivität des DMN erhöht (grübeln) weshalb für manche Menschen mit Depressionen Achtsamkeitsübungen nicht so empfehlenswert sind. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Arbeit bei Depressionen eine heilende Wirkung hat (Ablenkung, „Workaholic“) während Entspannung eher zu einer Verstärkung der Depression führt (Grübeln, Melancholie). Eine verminderte Aktivität des DMN findet man bei Autismus-Spektrum-Störungen und bei Alzheimer-Krankheit.

Wie kommt es zum Gefühl, „sich im Universum aufzulösen“?

Wird der Precuneus zerstört (durch Operation, Schlaganfall etc.), kommt es zu einer Störung des Ich-Gefühls und der Selbstwahrnehmung sowie zu Gedächtnisstörungen und Veränderungen des räumlichen Vorstellungsvermögens. Eine „normale“ Verarbeitung sozialer Informationen und eine Abgrenzung des eigenen ICH zur Umwelt ist nicht mehr gut möglich. Das „ICH“-Gefühl hört gewissermaßen auf zu existieren.

Was wir aus der Wirkung von Psychedelika lernen können:

Ein sehr ähnlicher Zustand kann durch gewisse Drogen (Psychedelika) hervorgerufen werden, die zu einer Stimulation bestimmter Serotoninrezeptoren (5-HT2A-Rezeptoren) führen. Bekannte Vertreter dieser Drogen sind LSD (Lysergsäurediethylamid), Psylocibin, DMT (Dimethyltryptamin, Ayahuasca), Meskalin (Peyote-Kaktus), Ketamin (Narkotikum) und Salvia divinorum (Götter-Salbei). Die Einnahme dieser Drogen führt über die Stimulation der 5-HT2A-Rezeptoren zu einer Unterdrückung der Aktivität im DMN (Default Mode Network). Dadurch werden selbstreflexive Gedanken unterdrückt und das ICH-Gefühl löst sich allmählich auf. Dieser Zustand der ICH-Auflösung wird auch als EGO-Dissolution bezeichnet. Die Betroffenen erleben dabei ein „erhebendes Gefühl“ und haben die Vorstellung, mit dem Universum zu verschmelzen oder das Gefühl „Gott“ zu erfahren. Nachdem dieser Zustand abgeklungen ist, wird das Erlebte oft als „spirituelle Erfahrung“ oder als „Gotteserfahrung“ bezeichnet. Dabei besteht die feste Überzeugung, dass das Erlebte Real war. Die Betroffenen sind dementsprechend auch nicht von der vermeintlichen „Echtheit“ des Erlebten abzubringen („ich habe alles am eigenen Körper erlebt!“).

Die oben beschriebenen Substanzen werden seit Jahrtausenden bei religiösen Handlungen verwendet. Da sie regelmäßig (aber nicht immer!) spirituelle Erlebnisse auslösen, werden sie auch als entheogene Substanzen („Gott erzeugende Substanzen“) bezeichnet. Wichtig zu wissen ist, dass diese Ich-Auflösung nicht immer eintritt und sehr unangenehme Gefühle entstehen können. In diesen Fällen sprechen die Betroffenen auch von einem „Horrortrip“.

Beim Sterbevorgang oder bei massiven Durchblutungsstörungen können einzelne Nervenzellen, die Serotonin enthalten, absterben und dabei Serotonin an die Umgebung „verlieren“. Dieses Serotonin kann durch aktive Prozesse nicht mehr in die Nervenzellen wieder aufgenommen werden (da die Zelle ja tot ist). Serotonin verbleibt über längere Zeit im synaptischen Spalt und kann die 5-HT2A-Rezeptoren von noch nicht abgestorbenen Zellen erregen. Wie bei der Einnahme von psychedelischen Drogen kommt es dadurch zu wunderbaren „Gotteserfahrungen“ und man fühlt sich mit dem Universum (oder Gott) verbunden.

In der Forschung zu Nahtoderfahrungen wurde beschrieben, dass Nahtoderlebnisse in 99 % der Fälle als sehr angenehm empfunden wurden (Gefühl, im Himmel zu sein) und nur in 1 % der Fälle war das nicht der Fall (Horrortrip oder „Höllengefühl“). Es stellt sich die Frage, ob durch Reanimationsmaßnahmen das Gefühl der EGO-Auflösung gestört wird und dadurch mehr Menschen in eine Art Horrortrip-Erlebnis geraten? Wir wissen nicht, ob wirklich alles genau so abläuft, wie oben beschrieben. Aber es ist eine sehr einfache Erklärung für vermeintliche „Gotteserfahrungen“ im Rahmen von Nahtoderlebnissen oder im Rahmen „spiritueller Erfahrungen“. Siehe dazu auch den Fragebogen von Greyson.

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Autor: Ledochowski

Arzt und Autor

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